Catch me if you can

Wir standen also irgendwo im Nirgendwo und unser Zuhause war weg. Wie alles, was unten vier Dinger zum Fortbewegen dran hat – seien es vier Pfoten oder vier Räder – hatte auch unser Zuhause vor der Abreise aus Deutschland einen GPS-Tracker verpasst bekommen. Also raus die Handys und das entflohene Zuhause orten. 

60 Kilometer entfernt. Der Lidl-Parkplatz in Torremaggiore. Unerreichbar auf die Schnelle.

Erste Idee: 112. Die werden uns schon helfen. „Hallo, haben Sie einen Notfall?“ Nein, wir rufen nur zum Spaß an und wollen ein bisschen plaudern… „Ja, uns wurde das Wohnmobil geklaut.“ „Da können wir leider nicht helfen. Gehen Sie bitte in die nächstgelegene Stadt und erstatten dort Anzeige.“ „Wir wissen, wo es ist! Jemand muss schnell reagieren und es sicherstellen, bevor die Täter weiterfahren!“ „Das macht die Polizei dann vor Ort. Gehen Sie in die nächstgelegene Stadt und erstatten Sie dort Anzeige.“ Danke für nichts.

Zweite Idee: Telefonnummer der örtlichen Polizei wählen. Tut. Tut. Tuuuuuuut.

Dritte Idee: Polizei in Torremaggiore anrufen. Tut. Tut. Tuuuuuuut.

Vierte Idee: Taxi. Bus. Schreien. Weinen. Autos anhalten. Busse anhalten. Im Kreis rennen.

In der Ferne stehen zwei Autos und drei Menschen. Wir rennen hin, texten sie voll – per Übersetzungs-App, in gebrochenem Italienisch, Englisch, Deutsch, mit Händen und Füßen. Sie verstehen, sie reagieren, sie telefonieren. Bombardieren ihren Gesprächspartner in schwallartigem Italienisch. Wir stehen daneben – verzweifelt, hilflos, verstehen kaum ein Wort.

Sie erklären uns, dass die Polizei zum Lidl-Parkplatz fährt und sie uns nun zur örtlichen Polizeistation bringen würden, wo wir eine Anzeige machen müssten. Hunde in den Kofferraum, wir auf den Rücksitz, Vater und Sohn vorne. Zehn Minuten später stehen wir in Mattinata vor dem Revier. Das Handy des Vaters klingelt. Immer wieder sagt er: „Sì, ho capito“ – ich habe verstanden. Mehr verstehen wir nicht.

Er beendet das Telefonat. Wir sitzen erstarrt da: kalte Hände, bleiche Gesichter.

Der Sohn erklärt, die Polizei habe das Wohnmobil sichergestellt und an einen sicheren Ort gebracht. Man brauche Fotos unserer Dokumente. Wir müssten nach Manfredonia aufs Revier und dort Anzeige erstatten, dann weiter nach Torremaggiore, um dort Aussagen zu machen. Papierkram. 

Wir rasen los. Sie telefonieren weiter. Wir brauchen ein Taxi ab Manfredonia. Sie haben Kontakte.

Ihr Kontakt lehnt uns ab – wegen der Hunde, wegen seines neuen Mercedes. Wir müssten den Bus nehmen.

Am Revier in Manfredonia angekommen, redet der Vater. Wir nicken, versuchen zu ergänzen, zu erklären, zu kooperieren, zeigen Schlüssel, Papiere, verzweifelte Gesichter. Wir verstehen nur Bruchstücke, versuchen Körpersprache zu lesen. Die Zeit rennt. Es wird nicht reichen – Torremaggiore ist zu weit weg.

Wir unterschreiben. Der Vater führt uns hinaus. Wir ringen die Hände, fragen verzweifelt, wo die Bushaltestelle ist, ob sie uns dorthin bringen würden. Der Sohn übersetzt: Die Zeit reicht nicht. Man müsse uns jetzt selbst nach Torremaggiore fahren – sie würden dies tun.

Verlegen ergänzt er, ob wir vielleicht das Benzin zahlen könnten. Wir würden ihnen das ganze Auto bezahlen, wenn wir nur unser Zuhause wiederbekämen.

Er gibt Gas. Wir halten uns an den Händen fest. Kalte Hände und Sorge beim einen, warme Hände und erste Erleichterung beim anderen. Zuhause, wir kommen dich holen.

Eine Frau ruft an. Wir gehen ran. Sie spricht Deutsch. Kein echtes Deutsch – nur dieses Schwäbisch. Aber sie versteht uns, und wir verstehen sie, ohne Hände, Füße und Apps. Sie sagt, sie wäre da, wenn wir ankommen, sie würde uns helfen.

Als wir ankommen, ist sie da.

Vater und Sohn dürfen endlich heim. Wir geben ihnen alles Geld, das wir noch dabeihaben, schütteln Hände, versuchen herzlich zu lächeln und unsere Dankbarkeit mit allen italienischen Wörtern auszudrücken, die wir finden können. Sie gehen. Wir setzen uns. Die nächste Runde beginnt.

Wir können Deutsch reden, endlich erzählen, was genau war und geschah, und unser Gegenüber versteht alles – denn wir haben jemanden, der alles übersetzt. Wir bekommen Gehör, bekommen Fotos gezeigt, bekommen Wasser für uns und die Hunde, bekommen Erklärungen, beruhigende Worte, Trost, weitere Hilfsangebote. Wir bekommen, bekommen und bekommen – und wir nehmen alles.

Irgendwann ist es Zeit, nach Hause zu fahren. Wir werden auf zwei Polizeiautos verteilt, die Hunde dürfen ausnahmsweise mitfahren. Blaulicht an. Los.

Zehn Minuten später biegen wir in einen Hof ein, sehen ein braunes Wohnmobil. Zeit der Wahrheit: Wie viel Zuhause gibt es noch?

All die Einzelheiten würden sich erst am nächsten Tag zeigen. Doch so viel war uns schon nach zwei Stunden Aufräumen klar: Es gab noch ein Zuhause. Mit weniger elektronischen Geräten, ohne Hundesachen und Toilettenartikel, mit zerstörten Schlössern und beschädigter Verkabelung und Verkleidung im Cockpit, aber getarnt als unser Zuhause. 

Wie viel Zuhause, ob getarnt oder Wirklichkeit – den Hunde war es egal. Sie schliefen ein. 

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