Eigentlich wollten wir ja nicht schon wieder in einen Tierpark. Und eigentlich haben wir das auch nicht getan. Wir suchten eigentlich nur einen ruhigen Strand zwischen Venedig und San Marino. Dabei stießen wir uneigentlich auf das Gebiet Volano mitten im Po-Delta.
Das Gebiet ist weitläufig, ökologisch fast abgeschlossen, reich an Wasser und Nahrung und gleichzeitig geschützt vor Jagd, Straßenverkehr und natürlichen Feinden. Kurz gesagt: ein perfektes Refugium für Rotwild. Und genau das hat sich hier in den letzten Jahrzehnten ungehindert vermehrt. Die Tiere haben kaum noch Scheu vor Mensch oder Hund, so dass sich das Ganze wie ein Wildtierpark ohne Zaun anfühlte.
Es war ein beeindruckendes Erlebnis. Liegend, stehend, röhrend. Jungtiere, ausgewachsene Tiere, prächtige Geweihe – und wir mittendrin, ohne sie merklich zu stören.
Für die beiden Hundedamen war es eher ein Wandeln auf schmalem Grat – zwischen Spaß und Strapaze. Kein Zaun, aber Rotwild in Sichtweite – überall. Die Tiere standen nur wenige Meter entfernt im Wald oder auf den Wegen und starrten uns unbeeindruckt entgegen. Anfangs waren die Mädels noch aufmerksam, abrufbar und gut zu lenken. Doch mit der Zeit schwand die Impulskontrolle: Es wurde gequietscht, gebellt, gewinselt, gehechelt – und an allen Enden der Leinen zunehmend entnervt gezogen. Vor allem natürlich an der von Happy.
Wir verbrachten die beiden Tage in Volano nicht nur im Wald und auf „Wildtiersafari“, sondern auch am Strand, wegen dem wir gekommen waren. Der lange Sandstrand lud zum barfüßigen Spazieren, Muschelsammeln und Toben ein – Begeisterung auf allen Seiten.
Und entweder man hat es erlebt – oder eben nicht. Die Eindrücke, die Geräusche, die Gerüche, das Gefühl, sich in diesem Labyrinth aus Gassen und Kanälen treiben zu lassen – all das lässt sich nicht wirklich beschreiben.
Zwanghaftes Erkunden
“The trouble is, walking in Venice becomes compulsive once you start. Just over the next bridge, you say, and then the next one beckons.”
– Daphne Du Maurier
Ganz genauso wie es Du Maurier beschrieb, ging es uns an unserem ersten Nachmittag – an dem sich direkt noch ein Abend reihte – in Venedig auch. Das Problem ist, dass das Spazierengehen in Venedig zwanghaft wird, sobald man einmal angefangen hat. Gleich über die nächste Brücke, sagt man, und dann lockt die nächste.
Wir wollten doch „nur mal kurz rüberfahren“, ein bisschen durch die Straßen bummeln, eine Pizza essen und uns die Stadtbesichtigung für den nächsten Tag aufheben. Doch daraus wurde nichts. Wir liefen, blieben stehen, staunten. Dann liefen wir wieder, blieben stehen, staunten erneut – und so weiter, bis es schließlich dunkel, uns Zweibeinern kalt und die Hunde lauffaul wurden.
Stunde um Stunde schlenderten wir durch die Stadt, verweilten auf Brücken und beobachteten das geschäftige Treiben auf dem Wasser. Wir ließen die Kulisse auf uns wirken, schoben uns durch enge, verwinkelte Gassen und fragten uns, wie man sich hier überhaupt zurechtfinden kann – mit Handy-Navigation jedenfalls nicht, denn das GPS-Signal ist in Venedig eher symbolisch vorhanden.
Pizza gab es an diesem Tag keine. Nach mehreren freundlichen, aber bestimmten Abweisungen – mit Hunden durfte man oft nicht einmal draußen sitzen – gaben wir auf und fuhren erschöpft zurück zum Wohnmobil. Es würde ja noch einen Tag geben.
Zwischen Prunk und Verfall
Dienstag war Venedig-Tag. Komplett. Von früh bis spät. Wir nahmen alles mit, von Bus über Tram und Boot, Stadtwanderung, und so viele Museen wie zeitlich gingen, Eis und Pizza, Hitze und Kälte und am Schluss wankten 12 müde Beinchen Heim.
Wir besuchten den Dogenpalast und die drei weiteren Nationalmuseen am Markusplatz. Gemälde, Büsten, Skulpturen, verzierte Decken, aufwendig gearbeitete Türen und Räume, die jedes für sich ein Kunstwerk sind – man wusste kaum, wohin man zuerst schauen sollte.
Doch so viel Mühe, wie man in die Instandhaltung der prachtvollen Innenräume steckt, so deutlich zeigt sich draußen das andere Gesicht Venedigs: bröckelnde Fassaden, Müll in den Ecken, modriger Geruch. Wen wundert es. Die Gelder fließen entweder in die glänzenden Prunkbauten oder werden für die ständige Pflege der Kanäle benötigt – ein aufwendiges, aber notwendiges Unterfangen, um Stadt und Lagune zu schützen.
Das Abwassersystem Venedigs besteht aus über 7.000 Klärgruben, die das Abwasser sammeln und grob reinigen, bevor es in die Kanäle fließt. Viel mehr als eine Grundreinigung passiert dort freilich nicht. Zusammen mit dem Müll, den der tägliche Touristenstrom hinterlässt, belastet das die Lagune spürbar. Als wäre das nicht genug, sinkt der Boden weiter ab, während der Meeresspiegel steigt. Immer häufiger steht das Wasser in den Gassen und kriecht die Fassaden empor.
Der Gedanke, dass dieser erstaunliche Ort vielleicht schon am Ende des Jahrhunderts nicht mehr existieren könnte, hinterlässt uns im Zwiespalt. Als Touristen sind wir Teil des Problems und doch zugleich Teil der Lösung, denn ohne Besucher gäbe es kaum Mittel für Erhalt und Pflege. Am Ende treibt uns wie viele andere auch die eigene Gier: das Faszinierende noch zu sehen, zu spüren, darin einzutauchen, all das aufzunehmen, solange es noch möglich ist, bevor das Wasser die Geschichte weiterschreibt.
Zwei Hunde mitten im Trubel
Und ja – Happy und Cima waren natürlich jeden Tag dabei.
„Mittendrin statt nur dabei“ war das Motto, und sie machten ihrem Leitspruch alle Ehre. Trotz Nebensaison und Wochentag war die Stadt gut gefüllt. Doch egal, wo wir liefen oder mit was wir fuhren, und egal wie eng oder voll es wurde, unsere zwei mal vier Pfoten blieben die Ruhe selbst.
Geduldig warteten sie mit einem von uns auf den anderen, wenn dieser ein Museum besuchte, wenn wir Pizza oder Eis aßen, auf Brücken standen und wieder einmal über den nächsten Weg debattierten. Beeindruckend wie die Stadt war für uns auch das Verhalten unserer beiden Hunde.
Kaum hatte die neue Woche begonnen, setzten wir unsere Reise nur wenige Kilometer von dem Ort fort, an dem wir die letzte beendet hatten. Noch immer befanden wir uns in einer Region, deren Landschaft und Geschichte stark vom Ersten Weltkrieg geprägt sind – also tauchten wir erneut ein in diese Vergangenheit: auf der Strada delle 52 Gallerie, der Straße der 52 Tunnel.
Durch die 52 mal kurzen, mal langen, mal geraden und mal spiralförmigen Tunnel arbeiteten wir uns auf der ausführlich beschilderten Tour hinauf zum Rifugio Achille Papa. Dank der mehrsprachigen Infotafeln konnten auch wir den Erklärungen zur Anlage, ihrer Entstehung und den Geschichten einzelner Tunnel und Personen folgen. Der Nebel tat sein Übriges, um die ohnehin schon düstere, leicht mystische Stimmung dieser geschichtsträchtigen Region zu verstärken – ein Ort, an dem hunderte Menschen in kürzester Zeit Unvorstellbares geleistet haben.
Stimmungswechsel. Sonnenschein, plätscherndes Wasser, bunte Gärten. Am Mittwoch genossen wir nach einem üppigen Besuch beim Bäcker eine gemütliche Wanderung auf der Via dell’acqua – dem Weg des Wassers. Da wir an akuter Lustlosigkeit litten (genauer gesagt: keine Lust hatten, ständig die Übersetzungs-App zu zücken), verstanden wir kaum ein Wort von dem, was uns die Tafeln vermitteln wollten. Doch der liebevoll angelegte Weg entlang des Flusses Roggia ließ sich auch ohne Wissenszufluss wunderbar genießen.
Wir konnten es nicht länger ignorieren. Es verfolgte uns. Rief uns tags und nachts. Der Fels. Zeit zum Klettern!
Freitag und Samstag folgten wir dem Ruf. Oberhalb von Schio bei Vicenza nahmen wir uns zuerst Contrada Rossi vor, wo wir in völliger Ruhe und bei ein wenig Sonne die Routen abarbeiteten. Das freundliche Dornengestrüpp machte sich allerdings nicht nur am Boden bemerkbar – und auch nicht nur im Auge. Doch was tut man nicht alles für ein bisschen Spaß?
Am nächsten Tag teilten wir uns Sonne und Fels von Cogollo del Cengio mit kletterfreudigen Italienern. Am Ende waren die Finger wund, die Gesichter glücklich und der Stolz groß – unser Durchhaltevermögen am speckigen Fels konnte sich sehen lassen. Doch was tut man nicht alles für ein bisschen Sonne?
Das Momentum leben heißt, bereit zu sein, wenn einem etwas vor die Füße fällt – in unserem Fall: Käse. Eigentlich wollten wir auf dem Weg nach Venedig nur einen kurzen Stopp für eine entspannte Gassirunde einlegen. Doch in Piazzola sul Brenta stießen wir plötzlich auf Menschenmassen. Neugier ist die Tugend des Reisenden – also folgten wir der Musik, den Menschen, der Nase.
Vor und rund um die majestätische Villa Contarini, eine der prächtigsten Villen des Veneto, fanden wir die Ursache des Auflaufs: Caseus – ein Käsefest mit Musik, Wein und allerlei Gaumenfreuden.
Futter ist immer gut, befanden wir, und gaben das Kommando „begleiten“. Cima reihte sich links, Happy rechts von Frauchen ein, und angeführt von Tobi stürmten wir los, um unsere Mägen mit Käsehäppchen zu füllen.
Eine Ewigkeit später ließen wir, mit einem Baumstriezel in der Hand, die Villa hinter uns – und die Geschichte dieses Abendbrots, ja dieser ganzen Woche, fand ihr würdiges Happy End in einer Wolke aus Zucker und Zimt.